Dass Eltern und Kinder pandemiebedingt gerade extrem großen Belastungen ausgesetzt ist, haben die meisten mittlerweile verstanden. Zumindest theoretisch. Auf der Prioritätenliste von den politischen Lenker:innen muss man trotzdem von unten anfangen zu suchen, wenn es um Maßnahmen geht, die den Schutz von Familien gewährleisten. Kitas als unkontrollierbare Infektionsherde, Erzieher:innen am Limit, Eltern zwischen Existenzangst, Sorge um die Zukunft ihrer Kinder und den Anforderungen ihres Arbeitgebers, der nicht bereit ist, Abstriche beim Arbeitspensum zu machen. Von den vollen Frauenhäusern und vernachlässigten Kindern fange ich gar nicht erst an. Aber hey, hauptsache der Dax ist stabil und man kann wieder mit der Lufthansa nach Malle jetten.

Alles “wieder gut” – Was heißt das für Familien?

Hach ja, Corona ist echt ein nerviges Virus. Aber zum Glück verschwindet es bald und dann, ja dann ist alles wieder gut. Dann können Eltern wieder ganz entspannt ihrer geregelten Arbeit nachgehen (jetzt auch im Homeoffice – woooow!!!) und Kinder sich an glücklichen Erzieher:innen und kreativen Räumen in den Kitas erfreuen. Das wird mega! So als hätte es Corona nicht gegeben. Doch Moment, so richtig entspannt waren die Eltern ja gar nicht vor Corona. Ein Blick in die Geschichtsbücher von vor 2020 zeigt, dass die Sache mit der Vereinbarkeit schon vor dem Ausbruch der Pandemie ein Thema war. Dass Eltern sich zerrissen haben zwischen unflexiblen und wenig wertschätzenden Arbeitsumfeldern, der Verantwortung für ihre Kinder und dem Wunsch, eine gute Zeit mit ihnen zu verbringen. Und so richtig glücklich waren ja auch die Erzieher:innen gar nicht vor Corona. Ist halt schwierig, wenn man allein die Verantwortung für 15 Kleinkinder trägt, Druck von allen Seiten bekommt und abends zu erschöpft ist, um sich den eigenen Kindern zu Hause zu widmen. Naja und die Räume…da wurde zuletzt 2014 drübergestrichen. Wovon reden wir also, wenn wir über die Zeit nach Corona sprechen in der Annahme, dass dann “alles wieder gut” wird? Streben wir einen Zustand wie vor der Pandemie an? – Denn das hieße lediglich ein kurzes Aufatmen für Eltern angesichts von wiederhergestellter “Normalbetreuung”, die es ihnen dann erlaubt, zuverlässig ins alte Hamsterrad zurückzukehren.

Eine Neue Normalität braucht ein neues Betreuungssystem

Wenn wir eine Neue Normalität anstreben, die den Namen auch verdient, dann dürfen wir diese nicht nur arbeitsseitig denken, sondern müssen sie im Zusammenspiel mit anderen Lebensbereichen gestalten. Während sich die Arbeitswelt jedoch in vielen Bereichen spürbar wandelt, was durch die Pandemie noch einmal beschleunigt wurde, bleiben die Strukturen im Betreuungsbereich seit Jahren unverändert und starr. Digitalisierung, Vernetzung, flexible Betreuungs- und Arbeitsmodelle, Kollaboration, agile Arbeitsweisen – all das scheint weder in Betreuungseinrichtungen noch in den übergeordneten Institutionen Anwendung zu finden. Dabei könnten sie nicht nur die Arbeits- und Lebensqualität der Beschäftigten in der Betreuung wesentlich verbessern, sondern auch dafür sorgen, dass Betreuungskonzepte sich mit den Bedürfnissen von Familien mitentwickeln.

Klingt zu theoretisch? Dann lasst uns konkret werden! Denn die Vision von neuen, lebensfreundlichen Arbeits- und Betreuungsmodellen ist da und wird von einigen Macher:innen bereits lokal umgesetzt.

Stell dir vor…

Eine Neue Normalität, wie wir sie gestalten, erlaubt es Eltern, ihre Arbeitsumgebung entsprechend ihrer aktuellen Lebensphase und den daraus resultierenden Bedürfnissen zu wählen – weil sie eine Auswahl haben. Weil es in jeder größeren Kommune zum Beispiel einen Coworking Space mit flexibler Betreuung gibt, der zudem bestens vernetzt ist mit den anderen Betreuungseinrichtungen im Umfeld, wie Kitas und Tagespflege, aber auch Einrichtungen für Senioren. Betreuer:innen der unterschiedlichen Einrichtungen kennen einander, sind im Austausch miteinander, helfen sich aus. Familien können sich Betreuungsplätze teilen, kennen sich untereinander, kennen die Betreuer:innen in den unterschiedlichen Einrichtungen.

Es gibt ein fließendes System zwischen den verschiedenen Betreuungseinrichtungen, um Engpässe abzufedern und die Qualität der Betreuung stets hochzuhalten. Elternabende und pädagogische Weiterbildungen finden im Coworking Space statt. Die dortige Community wiederum bietet Design Thinking Workshops und Begleitung für agiles & kollaboratives Arbeiten in Kitas und Tagespflege an. Erfahrene Erzieher:innen sind Mentor:innen für neue Babysitter:innen im Coworking Space, die vielleicht später selbst in der Kita als Fachkraft arbeiten wollen.

Es gibt eine niedrigschwellige Einstiegsoption für Quereinsteiger:innen, die sich – eingebettet in das Netzwerk aus Coworking Space und Betreuungseinrichtungen – zu einem/einer Junior Erzieher:in ausbilden lassen können. Das gilt auch für Migrant:innen, die im Coworking Space Deutschkurse belegen. Die Coworking-Community unterstützt – durch Sprachtandems und durch den Kontakt zwischen den zugezogenen und einheimischen Familien. Gleichzeitig wird die Prüfung zur Tagesmutter digital und auf englisch angeboten.

Senioren lernen im Coworking Space von jungen Digitalarbeiter:innen die wichtigsten Kniffe, um über digitale Tools mit ihren Kindern und Enkeln verbunden zu sein. Sie helfen in der Kinderbetreuung aus oder kochen für die Community im Space und die Kita nebenan. Sie lesen vor und springen ein, wenn die Erzieherin, die selbst junge Mutter ist, einen Arzttermin mit dem Kind hat. Alle Teams und Helfer:innen, egal wie alt sie sind, koordinieren sich digital. Die Kompetenzen erwerben sie im Coworking Space. Auch ältere Menschen bleiben so eingebunden in ein lebendiges Netzwerk, fühlen sich gebraucht und bleiben lange geistig und körperlich fit.

Das gute Betreuungsangebot und die gegenseitige Unterstützung im Netzwerk sorgen dafür, dass immer mehr Eltern sich entscheiden, selbst zu gründen. Zum einen, weil sie endlich die Kraft dazu haben und die Sicherheit, dass sie eingebettet sind in eine starke Community aus anderen Eltern und engagierten Betreuer:innen. Zum anderen, weil sie einen räumlichen Anlaufpunkt haben, wo sie im Austausch mit anderen Gründer:innen und erfahrenen Unternehmer:innen ihre Gründungsidee vorantreiben können. Die Gründungsquote von Frauen und Eltern steigt sichtbar.

Kurz: Wir bauen unzählige Dörfer, die es braucht um ein Kind großzuziehen. Dörfer in Dörfern, Dörfer in Städten, in Kiezen. Digital, vernetzt, menschlich, generationenübergreifend.

Wie kommen wir da hin?

Der erste Schritt, um diese Vision flächendeckend Wirklichkeit werden zu lassen, ist gleichzeitig der schwierigste: Offenheit und Bereitschaft auf allen Ebenen zu schaffen, das jetzige System zu hinterfragen auf aufzubrechen. Keine „Ja, aber…“ mehr:

Ja, aber wir treiben doch den Kita-Ausbau massiv voran. – Das allein reicht aber nicht! Wir brauchen Offenheit für neue ergänzende und flexible Konzepte, die als gleichwertiger Baustein der Kinderbetreuung neben Kitas und Tagespflege gesehen und entsprechend unterstützt und gefördert werden.

Ja, aber ohne pädagogisches Konzept können wir nicht fördern. – Doch, können wir und müssen wir! Auch flexible Betreuung kann konzeptionell arbeiten, darf aber freier in der Ausgestaltung sein. Zudem entsteht eine wertvolle Betreuung nicht nur durch übergeordnete Konzepte, sondern durch das Umfeld, das sie bietet. Der Betreuungsschlüssel bei flexiblen Modellen liegt oft weit über den gesetzlichen Anforderungen (bei uns im juggleHUB bei 1 : 3), was nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Betreuer:innen toll ist. Auch der Kontakt zu anderen Kindern bei gleichzeitiger Nähe zu den Eltern ist von unschätzbarem Wert für Kleinkinder und schon für sich genommen fördernswert.

Ja, aber wir dürfen doch flexible und feste Betreuungsformen nicht einfach mischen. – Warum nicht? So wie sich die Bedürfnisse von Eltern und Kindern mit den Jahren nach der Geburt ändern, darf sich auch die Betreuungssituation mitverändern: mal mit mehr Nähe zu den Eltern und kürzeren Betreuungsintervallen, mal mit mehr Abstand zur Familie und stärker eingebunden in eine Gemeinschaft aus Gleichaltrigen. Auch Erzieher:innen haben so die Möglichkeit, ihre Arbeitsmodelle flexibler zu gestalten. “New Normal” gilt dann endlich auch abseits der klassischen Bürojobs.

Die Liste ließe sich fortführen. Wir nehmen sie mit in die Gespräche mit Kommunen, Politiker:innen, Kitas und Verwaltungen, auf unsere „Road to Bundestagswahl 2021“, die wir gemeinsam mit dem Social Entrepreneurship Network (SEND) e.V. befahren. In diesem besonderen Wahljahr wird die Systemfrage zusehends lauter. Lasst uns gemeinsam ein System bauen, in dem alle Menschen systemrelevant sind. Und zwar von Geburt an.